Selbstverzwergung unserer Bildung

Ein Zwischenruf von Bildungsdezernent Burkart Pilz zur Einstufung von Religionsunterricht als Randfach - ausgerechnet in der Corona-Krise...

Kinder wollen in die Schule gehen. Eine schöne Erfahrung im Zuge der Schulschließungen unter Corona-Bedingungen. Monate des Homeschooling und der Isolation haben Kinder, Jugendliche und ihre Eltern enorm belastet.

Oft kaum benannt: Etwa ein Drittel aller Schüler wurden im sogenannten Fernunterricht gar nicht erreicht. Die Voraussetzungen für digitales Lehren und Lernen in den Familien und Regionen sind eben sehr unterschiedlich.

Und wie nun weiter?

Der Freistaat entscheidet: ,,Das Bildungsangebot an Grundschulen und in der Primarstufe der Förderschulen soll auf die Kernfächer Deutsch, Mathematik, Sachunterricht und in Klassenstufe 4 Englisch fokussiert werden. Die Sicherung der Grundlagen im Lesen, Schreiben und der Mathematik hat Priorität.

Die geltende Stundentafel für die Grundschule kann zugunsten der Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht priorisiert werden. Unterrichtsangebote in den anderen Fächern sollen fachübergreifend abgestimmt und je nach Möglichkeit hinzugezogen werden."

Es wird also unterschieden zwischen Kernfächer und Randfächer - auch in den weiterführenden Schulen. Der reduzierte Schulbetrieb habe sich auf Kernfächer zu konzentrieren. Randfächer sind verzichtbare Fächer. Natürlich versteht man die dahinterliegende Problematik der Schulorganisation.

Diese Grundintention ist dennoch ein großes Problem, eine Rückentwicklung, eine Verkleinerung von zentralen Auffassungen in der Bildung. Es ist eine Art Selbstverzwergung.

Eine längst überwundene Stufung von Fächer und Bildungsinhalten erlebt damit jedenfalls in Sachsen eine zweifelhafte Neubelebung.

Das mühsam erkämpfte Verständnis einer umfassenden allgemeinen Bildung? Das Recht auf Religion? Es ist nicht nur bedroht und marginalisiert, sondern wir erleben eine erschreckende bildungspolitische Indifferenz mit der Folge von Verkürzungen und Dimensionenschwund in Bildungsverständnissen. Das ist keinesfalls einfach ein Problem von Theoretikern. Sondern diese Verkleinerung wirkt unmittelbar in die Lebenswelt von Kindern. Auch hier zeigen sich die schmerzenden Tiefenwirkungen der Coronakrise, die sich eben auch als enorme Bildungskrise ausformt.

Besonders deutlich sind diese Folgen auch für den Religionsunterricht. Dieses Fach ist nicht ohne Grund im Grundgesetz verankert.

Aber gerade den Religionsunterricht trifft eine Rückentwicklung von Bildungsverständnissen unmittelbar. Freilich ist die Krise der Auslöser, freilich ist der politische Handlungsdruck enorm. Aber Krisen erzählen eben immer auch von dahinterliegenden Haltungen, von zentralen Auffassungen, sie bringen etwas ans Licht.

Was „zur Not" entschieden wird, ist vorher immer schon angelegt. Offenbar auch diese anachronistische Stufung von Schulfächern und Bildungsinhalten.

Es sei erinnert: Im Pisa-Konsortium definierte der Bildungsforscher Jürgen Baumert für schulische Bildung vier zentrale Modi der Weltdeutung,  die ineinander greifen:

Soziale und politische Bildung ebenso wie Sprache und Ästhetik, zum Dritten Naturwissenschaften und zum Vierten Philosophie und Religion. Dahinter zurück? Eindimensionales Lernen? Wieder eher ein „Merken" als ein umfassendes Lernen? Dahinter zurück will eigentlich niemand. Bitte auch nicht in der Krise. Sollte man jedenfalls meinen.

Wer würde bestreiten, dass jetzt in Pandemie-Zeiten und deren Erschütterungen für das Leben der Kinder und Jugendlichen mehr denn je Orientierung gesucht wird?

In den Fächern Religion oder Ethik werden diese Erfahrungen zur Sprache gebracht, bearbeitet, in Deutungskonzepte eingeordnet und erprobt.

In dieser Krise erfahren Kinder und Jugendliche in besonderer Weise, dass das Leben verletzlich und unverfügbar ist. Religion bietet dafür eine eigene Kultur und Sprache, um tiefgreifende Erfahrungen ausdrücken zu können.

Religion als Teil der Allgemeinbildung kann nicht durch die anderen Modi der Weltdeutung ersetzt werden:

In welcher Welt leben wir? In wie weit beherrschen wir die Welt und können Probleme lösen? In welchem Verhältnis stehen Gott und das Leid? Wohin mit unserer Angst, mit der Einsamkeit, mit Tod und Trauer? Worauf gründet die Würde des Menschen angesichts der drohenden Gefahr nicht ausreichender lntensivbetten? Wer entscheidet, was systemrelevant ist? Wie werden wir in die Lage versetzt, uns mit extremen Deutungen und Verschwörungserzählungen angemessen auseinanderzusetzen?

Der Religionsunterricht nimmt diese Fragen bewusst auf, ordnet sie, ohne dabei unauflösbare Spannungen zu negieren. Religionsunterricht befähigt Schüler, sich respektvoll zu positionieren und weiter zu fragen.

Schon der flüchtigste Seitenblick auf die gesellschaftspolitischen (Un-)Kulturen zeigt: wir brauchen diese Befähigungen nötiger denn je. Denn wenn auf der einen Seite nur noch gebrüllt wird, ist der andere Pol allzu oft das achselzuckende Schweigen vieler. Vielleicht ist dies auch eine Folge eindimensionaler Welterschließung.

Kurz: Bildungs- und gesellschaftspolitisch wäre es geboten, gerade die Sprach- und Deuteräume des Religions- und Ethikunterrichtes offen zu halten.

Es ist ein Fehler zu meinen, den Bildungskanon doch wieder zu priorisieren - in wichtige, wirklich wichtige und dann halt verzichtbare Bildungsinhalte.

Es zeigt sich übrigens gerade in der Krise, wie belastbar das errungene (und oft betonte) ganzheitliche Bildungsideal ist. Hauptsache Rechnen? Hauptsache Schreiben? Der Rest ist im Notfall verzichtbar?

Man ahnt - die Notwendigkeit ethischer und religiöser Bildung wird abseits politischer Überschriften eben doch nicht als so entscheidend eingeschätzt. Was für ein fataler und folgenschwerer Weg zum bildungspolitischen Pragmatismus.

Vor diesem Hintergrund sind die Ankündigungen zur Ausdünnung der Lehrpläne in Sachsen sehr wach· zu verfolgen. Vertreter der Kirchen sind jedenfalls bisher nicht eingebunden.

Das oft traktierte Helmut-Schmidt-Zitat ,,In der Krise zeigt sich der Charakter." gilt jedenfalls nicht nur für den erkennbar rüden Umgang mit Kunst und Kultur, sondern leider auch für Bildungsverständnisse und deren sichtbaren Rückbau in den letzten Monaten. Letztlich ist offenbar die Perspektive auf Kunst- und Kultur wie auch die auf den Religionsunterricht geleitet von einem funktionalisierten und technokratischen Verständnis dessen, was ein Mensch zum Leben braucht.

Der Religionsunterricht greift übrigens viele ethische Fragen auf, die aus der Pandemie immer wieder neu hervorgehen: Wer soll auf wessen Kosten geschützt werden? Wer wird zuerst geimpft? Wer wird gerettet? Wie wollen wir die Krise global und international lösen? Religionsunterricht entwickelt Modelle, wie Schüler mit aktuellen Problemstellungen umgehen können. Dabei gibt er Impulse für andere Fächer, die sich ebenfalls mit diesen Fragen z.B. aus naturwissenschaftlicher Perspektive auseinandersetzen.

Und noch etwas: natürlich nutzt auch der Religionsunterricht die digitalen Medien für Kontakte, seelsorgerliche Begleitung und Fernunterricht.

Aber was in einem guten Religionsunterricht auch vorkommt: es werden auch die Grenzen von Digitalisierung reflektiert: das Leben braucht Leiblichkeit, Menschen verkümmern ohne soziale Nähe . Es bricht einem das Herz, wenn man sieht, dass flächendeckend Kinder (vor allem in der Grundschule) in Sachsen kaum Zugang zu dieser Dimension des Lernens haben im Moment. Es ist nicht „aufholbar" (auch so ein technischer Begriff des Lernens... ).

Gerade die biblischen Erzählungen, die im Religionsunterricht ihren Platz haben, wären für die erschütterte Lebenswelt von Kindern Halt und Deutehilfe: Was trägt in der Krise? Worin kann ich mich bergen?

Die Herabstufung dieser Fragen als verzichtbar an der Schule macht unsere Bildungsverständnisse klein und raubt Kindern den Zugang zu zentralen Sinngestalten.

Es genügt einfach nicht, Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Wir sind ihnen auch den Reichtum an Gesten und Formen religiösen Lebens schuldig.

Denn was geschieht mit den Seelen der Kinder, wenn sie keine Fragen mehr stellen nach dem Grund unserer Hoffnung? Was geschieht, wenn wir ihre Fragen nicht mehr beantworten können?

Dann lassen wir ihre Seele verkommen, auch wenn sie mit Kompetenzen versorgt werden.

Dresden, 15. April 2021

Burkart Pilz Oberlandeskirchenrat

Dezernent für Bildung im Landeskirchenamt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens